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Wednesday, April 17, 2024

Autres temps, autres moeurs

 

 

Hinter diesen Fenstern im Obergeschoss der Münzstraße 2 saßen in den 60er Jahren zwanzig Leute in drei Zimmern mit einem fensterlosen Klo!

Ludwig Erhard hatte sein Buch "Wohlstand für Alle" veröffentlicht, aber weder sein Buch noch sein Wohlstand hatte uns bisher erreicht. Das sogenannte "Wirtschaftswunder" war kein Wunder das über Nacht kam sondern mit harter Arbeit und dem Verzichten auf persönlichen Komfort.

Zwanzig Angestellte und Lehrlinge - ich war einer der Lehrlinge - teilten sich drei Zimmer so groß wie normale Wohnzimmer, mit Schreibtischen - und ich meine nur "Tische" - die ohne Zwischenraum Brust an Brust und Seite an Seite quer durchs Zimmer aufgestellt waren.

Der Büroleiter und Abteilungsleiter der jeweiligen Abteilung hatten den Luxus eines 'richtigen' Schreibtisches direkt am Fenster, atmeten aber sonst auch die selbe dicke Luft und aßen den selben Mittagstisch der kurz vor Zwölf von einer Großküche abgeliefert wurde. Zwei Lehrlinge mußten dann ihre Tische opfern, eine Plastiktischdecke wurde darüber gelegt, und die Buchhalterin spielte "Mutti" und servierte die Königsberger Klöpse oder Kohlroladen oder Falschen Hasen oder Grünkohl mit Würstchen.

Natürlich mußte das alles auch einmal wieder weg und der Wettlauf der zwanzig Leute zum Klo began, ein Klo gerade groß genug für den Klositz und ein Handwaschbecken welches seinen Namen verdient hatte denn nur eine passte da rein. Und natürlich passte nur ein Mensch ins Klo und wenn dieser Mensch dann auch noch seine BILD-Zeitung mit zum Klo genommen hatte - oder im Falle des Fußball-verrückten Abteilungsleiter der Kraftfahrzeugversicherungs-Abteilung das KICKER Sports-Magazin - da Zeitungslesen bei der Arbeit verboten war, dann mußte man seinen Atem halten und warten was vielleicht auch das Beste war denn diese kleine Kammer hatte weder ein Fenster noch sonst irgendeine andere Ablüftung. Der einzige Luxus war richtiges Klopapier auf einer Rolle und nicht wie zuhause geviertelte Seiten der Braunschweiger Zeitung, was zeitlich auch besser war denn sonst hätten die Leute auch noch diese Seiten gelesen.

Und hier ist ein Bild von diesen zwanzig Leuten die sich damals ein winziges Klo teilten denn zu der Zeit waren wir mehr daran interessiert satt essen zu können und eine Wohnung zu haben und eine Anstellung. (Das Bild selbst wurde zum Anlass eines Betriebsausfluges gemacht zum Hauptsitz der Hamburg-Bremer Feuer-Versicherung in Hamburg welches einen mehr imponierenden Eingang mit mehr als einem Klo hatte.)

 

Von links nach rechts:

Erste Reihe: Ruth Zausra aus der Buchhaltung; unser Chef und Bezirksdirektor Herr (Manfred) Weber; der Büroleiter Herr Balke; der Lange daneben ist Günther Kohoff aus der Kfz-Abteilung.

Zweite Reihe: Fräulein Träger, eine Dame aus dem Schreibzimmer; Frau Seidel aus dem Empfang; die zwei jungen Damen neben ihr waren die Lehrlinge Ingrid Weinkauf und Marlies Spannuth; der Lehrling Bernd Burghof; Herr Weihe aus der Kfz-Abteilung; der Lehrling Bernd Hohm; ich selbst mit Brille und neuem Anzug.

Dritte Reihe: meine (allererste) Freundin (obwohl wir das beide damals noch nicht wussten); Alice, ein Lehrling in der Feuer-Abteilung; Fräulein Jilek, eine Schreibdame die viel für mich tippte; der Mann mit der Brille ist mir unbekannt; Karin Mohrmann war auch Lehrling; ich hatte ihren Namen fast vergessen; von den drei Köpfen rechts hinten erkenne ich nur Manfred Wichmann auf der linken Seite.

Ich erinnere mich auch noch an einen Herrn Offschorz (ist das die richtige Buchstabierung?) der nicht auf dem Bild ist. Und wo ist der Herr Schiller? Und wo sind die Lehrlinge Christine und Trute und der Lehrling Lothar der eine Vespa hatte? Hatten die die Hamburg-Bremer schon verlassen? Hatten sie wohl denn die HB war eine richtige "Lehrlingsfabrik".

 

 

Obwohl mir nach drei Lehrjahren das Warten gewöhnt war, hatte ich keine Lust auch noch auf das ausstehende "Wirtschaftswunder" zu warten und wanderte gleich ins sonnerige Australien aus - aber das ist eine ganz andere Geschichte für einen ganz anderen Tag --- siehe hier.


Googlemap Riverbend

 

P.S. Die Hamburg-Bremer Feuer-Versicherungs-Gesellschaft gibt es nicht mehr, aber ich würde gerne wissen wer da jetzt im Obergeschoss der Münzstraße 2 wohnt und ob die immer noch nur ein Klo haben. Noch besser wäre es von dort drinnen ein paar Fotos zu bekommen denn für Fotoapparate hatten wir in den frühen 60er Jahren kein Geld. Und noch eine Frage: wie viel kostet heute die damalige 10-Pfennig BILD-Zeitung?